Ungleichheit und ihre Erzählungen ‘Remains to be seen’ von Mona Hatoum - Diversity United, Berlin, 2021 - Foto: Kral • Photography

Ungleichheit und ihre Erzählungen

Ich habe gerade begonnen, “Anfänge - Eine neue Geschichte der Menschheit” von David Graeber & David Wengrow zu lesen. Das Buch beginnt mit einer kurzen Ausführung über “Ungleichheit”. Und brachte mich zum Nachdenken über die Erzählungen, die zu diesem und ähnlichen Begriffen führen und wie sie unsere Sicht auf unser Zusammenleben und auch unser Arbeiten in Organisationen prägen. Und wie die Veränderbarkeit von Zuständen letztlich von diesen Erzählungen abhängt.

Weitergelesen: “Anfänge” von David Graeber & David Wengrow

Und gleich auf den ersten Seiten falle ich rein ins Nachdenken: über den so alltäglichen Begriff “Ungleichheit”. Sehr oft hören wir ihn in Bezug auf ungleich verteilte Geldflüße oder ungleich verteilte Rechte. In sozialen Bezügen wird dann weiter davon ausgegangen, daß das Ausgleichen dieser bemessenen Ungleichheit zu einer Gleichheit - Egalität - führt. Im Buch werde ich dann im Weiteren dahin geführt, daß die Ungleichheit sich meist auf eine quantitatives Datum bezieht. Plakatives Beispiel: Die Reichsten x Prozent der Weltbevölkerung vereinen y Prozent des Besitzes auf sich. Die Utopie, die sich bei diesem Gedanken dann spinnen läßt, wäre: wenn alle Menschen gleich viel besäßen, gäbe es keine Ungleichheit. Jedenfalls nicht in Bezug auf Besitz und am Besitz hängt Lebensqualität … und aha: schon sind wir durch eine einfache quantitative Änderung zu einer neuen Qualität gelangt. Und weiter wird der Gedanke geführt: Weil wir in unserem, durch das Narrativ unserer Geschichtserzählung beglaubigten Gedanken (fest)stecken, daß dieses unser Gesellschafts- und Wirtschaftssystem das bestmögliche ist, können wir an diesem großen Zustand der Ungleichheit sowieso nichts ändern, weil diese Ungleichheit systemimmanent ist und sie uns immer begleiten wird. Und fangen uns selber damit ein, daß wir nur kleine Verbesserungen hier und da ermöglichen können. Dafür haben wir es ja in vielen anderen, kleineren Dingen des Lebens viel besser als früher und leben doch alle in unglaublichem Wohlstand (bis auf die z %, die da noch nicht sind, aber das schaffen wir schon auch noch). Solange wir mit den Zahlen jonglieren, haben wir ein Ergebnis und eine Aussage und brauchen wir uns mit den wirklichen Auswirkungen auf das Leben der einzelnen Menschen nicht beschäftigen, so der Gedanke weiter.

Wir verwenden diesen Begriff für eine skalare Meßgröße unseres Systems (Ungleichverteilung von Geld), dessen tiefere Bedeutung wir nicht hinterfragen, den wir jedoch wegen seiner Ausformungen geradebiegen wollen. Weil wir die eingeschränkte Definition dann auch noch bewerten: Ungleichheit = schlecht und Gleichheit = gut. Dann wollen wir natürlich generell die Ungleichheiten beseitigen. Aber was ist alles wie ungleich? Und im vergleich zu welchem “gleich”? Was ist sonst noch alles ungleich? Was davon kann gleich gemacht werden. Und - wir sind immer noch im Bereich der skalaren Größe - wann ist überhaupt Gleichheit hergestellt? Wie messen wir das, wenn es überhaupt meßbar ist? Wenn es aber nicht meßbar ist, sollten und können wir uns dann überhaupt damit beschäftigen? Und wir kommen nicht auf die Idee, einmal zu hinterfragen, wie sinnvoll es eigentlich ist, mit ein paar skalaren Größen ein Kontinuum zu definieren. Oder ob vielleicht eine andere Erzählung, die zu anderen Begrifflichkeiten und einem anderen Verständnis führt, sinnvoller ist.

Da fällt mir dann im weiteren Nachdenken ein Begriff wie Chancengleichheit ein. Zum Beispiel in unserem Bildungssystem sollte Chancengleichheit herrschen. Abgesehen davon, daß es in meinen Augen nicht so ist, stellt sich mir die Frage: Was ist diese Chancengleichheit und ist es Chancengleichheit, wenn alle SuS zum selben Zeitpunkt genauso lang dieselbe Leistungskontrolle schreiben? Und dann demselben Bewertungsspiegel unterworfen werden. Natürlich: Die Leistung muß ja vergleichbar sein. Muß sie das? Erreichen wir Gleichheit, wenn alle dieselbe Note geschrieben haben? Selbst wenn allen dieselben Angebote gemacht werden, ist das dann Chancengleichheit? Wenn man nach dem Wortsinn geht, komme ich der gefühlten Chancengleichheit etwas näher: Eine Gleichheit von Glücksfällen.

Und dann denke ich weiter: Wie oft werden eigentlich Prozesse in Organisationen nach Zahlen - skalaren Größen - berechnet und bewertet, anhand derer dann Koeffizienten für Veränderung und natürlich Wachstum bestimmt werden? Wo bleiben hier die kontinuierlichen Parameter, die sich nicht in diesem Sinne messen lassen? Und wo sind wir noch durch geprägte Narrative in quantitativen Begriffen gefangen, die uns denken lassen, durch eine einfache Veränderung eine neue, bessere Qualität zu erreichen oder uns denken lassen, eine Änderung sei nicht möglich, weil sie systemimmanent sind? Wie bestimmen sie unsere Sicht der Veränderung? Sollten wir nicht nach neuen Erzählungen suchen, um nicht in die Falle von Begriffen wie Ungleichheit und Chancengleichheit zu laufen? Wo sind solche Erzählungen heute möglich? Und welche sind das?

Da fällt mir noch ein Beispiel ein: Letztens sah ich einen Post mit einer Grafik, die darstellte, wieviele von 100 Schüler:innen einen Doktor:innentitel erlangen, verglichen nach der Herkunft der Schüler:innen aus entweder bildungsnahen bzw. bildungsfernen Haushalten. Im ersten Fall waren es 10 und im zweiten Fall 1, soweit ich mich erinnern kann. Für eine Größenordnung sollte das ausreichen. Akzeptiere ich nun das Narrativ und sein konstruierte Wirklichkeit und bewege ich mich nun innerhalb dieser Erzählung, die aus einem Schulsystem und den Schüler:innen besteht und in dem es anscheinend einen Erzählstrang “bildungsnah” und “bildungsfern” gibt, dann würde ich erst einmal fragen, was diese Begriffe denn bedeuten und wir abgrenzend sie definiert sind, so daß man alle eingeschulten Menschen in diese beiden Gruppen unterteilen kann. Weiterhin wäre es interessant zu wissen, welche Bildungswege für diese Darstellung angeschaut wurden. Beim schnellen Betrachten der Grafik sah es für mich so aus, als ob nur der relativ gerade Weg Grundschule > Oberschule > Gymnasium > Hochschule betrachtet wurde. Dann sollten man natürlich die Datenquellen analysieren und ihre Auswertung, die das Anfertigen einer solchen Übersicht ermöglicht haben. Ich denke, so kommt man auch schon sehr weit im Hinterfragen der Aussage der Darstellung. Vielleicht gibt es nach der Analyse eine etwas genauere Erklärung zu der Darstellung. Am Schluß der Überlegung stellt sich mir jedoch die Frage, was das nun bedeutet. Welche Erkenntnisse schöpfe ich daraus? Vielleicht diese: Den Menschen aus bildungsfernen Haushalten müssen mehr adäquate Angebote gemacht werden, damit sie in ihrer Gruppe auch 10 Doktor:innentitel erreichen. Adäquat in dem Sinne, daß sie die Angebote annehmen und umsetzen können. Eine große Aufgabe, aber wahrscheinlich machbar. Hier kommt jedoch mein Aber: Was, wenn ich darüber nachdenke, ob dieses Narrativ überhaupt sinnvoll ist? Das Narrativ davon, daß es gut und erstrebenswert ist, daß möglichst viele Menschen einen Doktor:innentitel erreichen. Muß möglichst jede:r so einen Titel erreichen (können)? Denn das wäre im Umkehrschluß ja das Ziel. Warum wird dieser Ziel überhaupt als so erstrebenswert angesehen? Könnte es nicht sein, daß viele Doktor:innentitel deshalb geschrieben werden, weil die Chancen auf eine bessere berufliche Stellung damit höher sind und nicht, weil es soviele erkenntnisreiche wissenschaftliche Forschung gibt? Wird auch hier nur Status verwirklicht?
Warum erzählen wir uns nicht eine Geschichte, in der die Fähigkeiten und Bedürfnisse der Menschen mehr gewichtig werden als ein Status, der noch dazu ungleich verteilt ist? In der jeder Mensch wichtig ist? Und in der wir uns nicht letztendlich mit einer systeminnewohnenden Ungleichheit zufrieden geben, weil diese Geschichte, die wir uns erzählen, schon eine große Errungenschaft ist und wir somit nur an kleinen Parametern schrauben, die natürlich nichts an ihrer Struktur und damit strukturellen Ungerechtigkeit ändert?

Wir sind umgeben von solchen Erzählungen und ihren innewohnenden Parametern, die wir in unseren alltäglichen Sprachgebrauch übernommen haben, ohne darüber nachzudenken, was sie bewirken. Das halte ich für eine herausfordernde Aufgabe, der ich mich öfter stellen möchte. Begriffe und die Erzählungen, in denen sie leben, zu hinterfragen und in Frage zu stellen. Sonst bestimmen sie unsere Wirklichkeiten und nehmen uns Möglichkeiten für Neues und Veränderndes.

Tags: anfänge, anthropologie, davidgraeber, narrative, organisation, systemisch, ungleichheit, veränderung

Kategorien: nachdenken